»In seiner Wohnung brennt kein Licht.« Raven sprang aus dem Wagen, doch Ian überholte ihn auf dem Weg zu einer Haustür, deren ursprüngliche Lackierung kaum noch zu erkennen war. Sie gehörte zu einem Mietshaus, dessen Schäbigkeit einen Anfall spontanen Heimwehs in Laurens weckte.
Ian traktierte die Klingel, aber aus der Gegensprechanlage drang kein Laut. Mit einem für menschliche Verhältnisse ungewöhnlichen Zischen schob Raven seinen Bruder beiseite und schloss auf.
Auf Ians empörten Blick hin zuckte er nur die Schulter. »Ich besitze einen Schlüssel für seine Wohnung, er besitzt einen für meinen Keller.«
»Ich bin auch sein Bruder, Mann. Warum gibt er mir nicht seinen Schlüssel?«
Raven zog ihn in den Hausflur. »Weil du ihm im Notfall keine Hilfe wärst, du Knirps.«
Von Treppenabsatz zu Treppenabsatz rannten sie schneller.
»Scheiße.« Vor einer angelehnten Tür blieb Raven stehen, zeigte auf das heraushängende Türschloss.
Laurens’ Herz lieferte eine Handvoll Extraschläge. Er musste in diese Wohnung.
Raven hielt ihn fest und legte den Finger auf die Lippen. Was sollte das? Er war nicht laut. Nur sein Herz, das gleich aus der Brust sprang.
Langsam schob Raven die Tür auf.
Nichts geschah, kein Geräusch, kein Samuel.
»Ich kann nichts sehen!« Ian drängelte sich an ihnen vorbei und schaltete das Licht an.
Samuel.
Auf dem Boden in eine Ecke gekauert, die Beine an die Brust gezogen und die Stirn auf die Knie gelegt.
Warum sah er nicht hoch? Weshalb rührte er sich nicht?
Raven fluchte in einem Akzent, den Laurens nicht verstand.
»Samuel?« Er kniete sich zu ihm und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. »Was ist passiert?«
Wie in Zeitlupe hob Samuel den Kopf. Diesen Blick würde Laurens niemals vergessen. So unendlich müde, so vollkommen resigniert.
Vorsichtig zog Raven das Shirt hinauf. Über dem Bauch glänzte es dunkel und nass. Raven hockte nur da, sagte kein Wort. Schließlich legte er die Stirn an die seines Bruders und beide schlossen die Lider.
Laurens sollte nicht hier sein. Der Moment war schmerzvoll und absolut privat. Was immer geschehen war, für seine Augen war es nicht bestimmt. Doch tatenlos konnte er Samuel unmöglich zurücklassen. Er war verletzt, das Dunkle auf dem Shirt war Blut. Laurens tippte die Notfallnummer.
»Was machst du da?« Ian starrte ihn entsetzt an.
»Ich rufe einen Arzt, was sonst?«
»Leg wieder auf.« Ian sprach leise, aber es klang entschieden. »Ein Arzt ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann.«
»Er blutet.«
»Leg auf.«
»Dann sag mir, was passiert ist.«
Raven winkte ihn zu sich, seine Augen leuchteten vor unterdrücktem Zorn. »Sieh selbst.«
»Nein.« Samuel hob die Hand, um Laurens auf Abstand zu halten, doch Ravens Blick zu ihm sagte etwas anderes: Komm und hilf ihm.
Jemand hatte Samuel verletzt. Dieser Gedanke schraubte sich tief in Laurens’ Eingeweide.
Als er sich neben Raven kniete, stöhnte Samuel leise. Er sah seinen Bruder an. Nicht ihn. Raven nickte ihm zu und zog den nassen Stoff noch einmal hinauf. Er war blutdurchtränkt.
Laurens’ Magen fiel durch ein enges Loch.
»Schau genau hin.« Ravens Blick beschwor ihn. »Das Wesentliche ist das, was man sieht.«
»Raven«, flehte Samuel. »Hör auf.«
»Nicht, bevor Laurens die Wahrheit erkennt. Er hat sie verdient und du auch.«
Da war etwas Dunkles unter dem Blut. Laurens zog den Stoff höher. Ein Panzer. Aus Schuppen? Wie ein Fisch. Nein. Eher wie eine Schlange. Aber nicht überall, nur auf der linken Seite. Rechts war Haut. Normale, helle Haut. Zwei, drei Schläge setzte sein Herz aus. Dann rannte es ihm davon. Das animierte Foto auf seinem Schreibtisch, es zeigte dieselbe Haut, nur dass der Mann vollkommen damit bedeckt war.
»Schrei nicht, Laurens.« Samuel klang todmüde. »Bitte schrei nicht.«
Warum sollte er das tun? Es gab keinen Grund. Samuel war verletzt. Nicht er.
Unterhalb des linken Rippenbogens klaffte rohes Fleisch. Ganz vorsichtig berührte er den Schuppenpanzer, der sich an die Wunde anschloss. Jemand hatte ein Stück herausgeschnitten. Gott, wer machte so etwas?
Samuel holte tief Luft, die Knöchel der Hand, die sich um die seines Bruders klammerte, wurden weiß.
Vielleicht entzündete sich die Wunde bereits. Sie musste desinfiziert werden.
»Ian, gib mir die Wagenschlüssel. Ich suche eine Nachtapotheke.«
Ian starrte ihn entgeistert an.
»Was ist? Ich will ihm nur helfen.« Die Verletzung war großflächig, sah schmerzhaft aus und lag inmitten glänzender Schuppen. Behutsam strich er über eine der unteren Brustplatten. Sie fühlte sich rau an trotz des Glanzes.
Unter seiner Berührung zuckte Samuel zusammen. Laurens zog seine Hand zurück. Samuel war verletzt, hatte Schmerzen, und er fingerte an ihm herum. War er noch bei Trost?
»Wenn du ihn berühren willst, mach es richtig.« Raven nahm Laurens’ Hand und legte sie auf Samuels Schulter. Dann zog er sie sanft über dessen Brust bis kurz vor die Wunde. Die Rauheit der Schuppen ließ Laurens’ Handfläche kribbeln.
Samuel seufzte und lehnte sich zurück. Offenbar mochte er diese Berührungen. Laurens setzte ein weiteres Mal an.
Fantastisch, wie Schlangenhaut. Nur dass die Schuppen größer waren. Wenn Samuel, so wie jetzt, tief atmete, hob und senkte sich sein Brustkorb und die Hornplatten schillerten im Licht.
So schön, so wunderschön. Warum hatte jemand etwas so Fantastisches zerstören wollen?
Laurens zog das Shirt vorsichtig über Samuels Kopf. Der hielt still, als wäre er versteinert worden. Schulter und Arm, alles glänzte. Laurens strich bis zum Ansatz des Handschuhs und streifte ihn ebenfalls ab. Feine kleine Schuppen bedeckten die Haut bis zu den Fingerspitzen.
Samuel beobachtete ihn dabei, wie er über die Finger streichelte. Gut, dass er Laurens’ Herzklopfen nicht hören konnte.
»Bitte mach das noch einmal.« Samuel sprach so leise, dass Laurens ihn kaum verstand. Er griff zögernd nach seiner Hand, legte sie sich erneut auf die Brust. »Es tut mir gut.«
Genau das wollte er: Samuel guttun. So lange, bis der resignierte Ausdruck der honiggoldenen Augen verschwand.
Laurens schloss die Lider, spürte jede einzelne Schuppe unter seinen Fingerspitzen. Da war Samuels Herz. Es schlug heftig wie seins. Da die Rippen, die sich unter der Berührung hoben und senkten, da der flache Bauch. Als er Feuchtigkeit fühlte, öffnete er die Augen.
Samuel sah ihn an. In seinem Blick stand die Frage, ob Laurens’ Zusammenbruch später käme.
Er würde nicht kommen. Wie konnte er es ihm nur begreiflich machen?
»Ich werde dir das Blut abwaschen. Okay?« Ein Anfang.
Samuels Pupillen weiteten sich. Sie fragten nach dem Warum, nach nicht vorhandener Angst, nach Dingen, die Laurens fremd waren.
Laurens beruhigte Samuels Zweifel mit einem Lächeln. Es gelang ihm leicht. Trotz seiner Bestürzung.
Da die Wohnung nur aus einem Raum zu bestehen schien, musste die zweite Tür zum Badezimmer führen.
Laurens schaltete das Licht an.
Schlauchschmal, fensterlos und ähnlich heruntergekommen, wie der Rest des Hauses.
Ein paar feuchte Handtücher hingen über dem Badewannenrand, ein Stapel mit frischen thronte auf einem Wäschekorb. Auf der Spiegelablage reihten sich Deo, Zahnbürste, Rasierer, Aftershave und Rasierschaum. Was hatte er erwartet? Politur zur Schuppenpflege? Er schnappte sich ein Handtuch, tränkte es in Wasser und wrang es aus. Sein Spiegelbild sah ihm gelassen dabei zu. Angesichts dieser verrückten Nacht war das erstaunlich. Er schaltete das Licht aus und kehrte zurück zu den anderen.
Wie Samuel erschöpft neben seinen Brüdern an der Wand lehnte, war er auf eine seltsame Weise wunderschön. Wie ein verwundeter Drache, der Letzte seiner Art. Kostbar und trotz des Schuppenpanzers fragil.
In Gedanken stellte sich Laurens vor ihn, mit Schild und Schwert, und wehrte alles ab, was ihn verletzen und kränken konnte.
Ritter Laurens, der seinen Lieblingsdrachen schützte, bis er wieder genesen war, um sich in die Lüfte, ins Wasser oder sonst wohin zu schwingen.
Samuel sah ihm entgegen. Mit demselben ungläubigen Ausdruck wie eben, als Laurens seine Hilfe angeboten hatte.
»Ich hoffe, ich tue dir nicht weh.« Laurens kniete sich zu ihm. »Sag mir, wenn ich zu grob bin.« So vorsichtig wie möglich tupfte er über die Wunde.
Samuel schloss die Augen, hielt jedoch still.
»Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?« Den wachsenden Zorn auf das Scheusal, das einem Menschen derartige Verletzungen zufügte, kämpfte er in einen dunklen Winkel seines Bewusstseins zurück. Sonst würden seine Hände zu zittern beginnen und das durften sie erst, wenn er Samuel versorgt hatte.
Ian schnaubte verächtlich. »Was soll passiert sein? Ein kleines Arschloch hat ein großes Arschloch engagiert, um das hier anzurichten. Und warum?« Eine Träne rann seine Wange hinab. »Weil er sich vor ein paar lächerlichen Schuppen fürchtet!«
Die schimmernden Hornplatten waren nicht lächerlich. Sie waren wunderschön.
»Warum hast du dich dem kleinen Arsch gezeigt?« Laurens wartete, bis Samuel ihm in die Augen sah. »Ich könnte mir vorstellen, dass du den größten Teil des Tages damit verbringst, dein ungewöhnliches Geheimnis vor deinen Mitmenschen zu verstecken.«
Samuel lehnte den Kopf an die Wand hinter ihm. »Der kleine Arsch wollte mich lieben. Und ich habe mit dem Gedanken gespielt, es zuzulassen. Doch plötzlich hat er sich die Sache anders überlegt. Seltsam, nicht?« Er klang so rau, wie sich seine Schuppen anfühlten.
Ian fuhr ihm übers Haar. »Mensch, Junge. Was hast du denn erwartet?«
»Leidenschaft und Hingabe.« Die Worte verließen Laurens’ Mund schneller, als er denken konnte. Er biss sich auf die Lippen, aber es war zu spät.
Samuels Blick traf ihn mitten ins Herz. »Genau das.« Sein Kehlkopf wanderte unter der gespannten Haut langsam hinauf, dann hinab.
Er schluckte nur, warum sah das so sinnlich aus? Laurens berührte ihn, bis er sich unter seinen Fingern noch einmal bewegte.
»Und was hast du bekommen, Bruder?« Nebenbei zog Ian Laurens’ Hand von Samuels Hals. »Verachtung und Schmerz. Und war es das erste Mal? Nein! Und wird es das letzte Mal sein? Wenn du dich weiter von Laurens kraulen lässt, bestimmt nicht.«
Stück für Stück kroch pochende Hitze über Laurens’ Gesicht. Was fummelte er auch an fremden Hälsen herum?
»Es ist immer dasselbe«, schimpfte Ian. »Tu dir doch nicht selbst weh.«
Samuel fuhr sich seufzend in die Haare. Für einen Moment krallte er sich daran fest. »Es ist ja nicht so, dass ich mich ständig einem Menschen offenbare, weil ich ihn vögeln will. Und es drängt sich auch nicht täglich einer auf, um sich in mir zu versenken.« Seine Kiefermuskeln verkrampften sich, und als er die Augen schloss, hätte Laurens am liebsten den Arm um ihn gelegt. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn aufgrund seiner Andersartigkeit verletzt hatte. Laurens wusste es, Raven wusste es. Sie wechselten einen Blick, der damit endete, dass Raven Laurens die Hand auf die Schulter legte.
»Sag den anderen nichts. Sein Leben fällt ihm leichter, wenn die Mehrzahl seiner Mitmenschen ihn lediglich für einen Typen hält, der eine Abneigung gegen kurzärmlige Shirts hat.«
»Ich habe nicht vor, ihn zu verraten.« Das Bedürfnis, diesen Mann zu beschützen, wuchs in einer Geschwindigkeit, die sein Herz zu zerreißen drohte. Es war gleichgültig, dass Samuel größer war als er. Es war egal, dass er seinen Muskeln nach garantiert stärker war als er. Es war auch vollkommen unbedeutend, dass sich Laurens gleich zum totalen Deppen machen würde, aber er musste Samuel zeigen, dass er für ihn da war. Die Angst vor Verachtung in den beinahe goldenen Augen zu sehen, schmerzte ihn von Sekunde zu Sekunde mehr.
Hinter ihm stapfte Ian hin und her und telefonierte mit Jarek, dass sie nicht zurückkommen würden.
Das war auch egal. Alles war egal. Nur nicht dieser Mund in dem unglücklichen Gesicht, der viel zu verkrampft wirkte.
»Ich frage mich, ob deine Lippen fester sind, als die von Julia, die ich letzte Nacht ständig küssen musste, obwohl sie nach ranzigem Lippenstift geschmeckt haben.«
Samuels überraschtes Lächeln kam und ging. Er nahm Laurens’ Hand, führte sie zu seinem Mund und legte die Fingerspitzen an seine Lippen. »Fühl selbst.«
Fest, warm, gnadenlos sinnlich, wenn Sinnlichkeit etwas war, das durch Fingerkuppen fließen konnte. Ian fiel das Handy hinunter, aber weder Laurens noch Samuel reagierten auf das scheppernde Geräusch.
»Jungs, macht jetzt keinen Scheiß.« Mit festem Griff zog Ian Laurens zurück. »Ihr seid beide aufgewühlt. Das bringt nichts, und ich will nicht, dass Samuels Herz in nur einer Nacht zweimal gebrochen wird. Es besteht sowieso nur aus Narben.«
»Dann ist es stabil und nichts wird ihm geschehen.« Raven stand in der Tür und nickte Ian zu, mit ihm zu kommen. »Wir sammeln Jarek ein, er schläft heute Nacht bei dir, Ian.«
»Ach ja?« Ian zeigte ihm einen Vogel.
»Samuel darf nicht hierbleiben. Wer immer das getan hat, kann wiederkommen. Laurens soll ihn mit zu sich nehmen.«
Laurens schluckte mit staubtrockener Kehle. Er hatte sich weit vorgewagt und sein Körper wollte noch weiter. Viel weiter. Weiter, als er es sich im Moment vorstellen konnte. Wenn Samuel mit zu ihm kommen würde, würden ihn diese fremden Gefühle fluten.
Widerwillig folgte Ian seinem großen Bruder, blieb in der Tür aber stehen und blickte sich nach ihnen um. »Nicht vergessen, ihr zwei: Macht keinen Scheiß!« Endlich wurden seine Schritte leiser und sie waren allein.