»Chris!«
Chris schreckte hoch. War er eingeschlafen?
»Chris, mach auf oder ich trete diese Türe ein! Gott ist mein Zeuge, ich bluffe nicht!«
Jarons Hand glitt aus seiner.
Er schlief. Ohne zu zucken, ohne nach seinem Bruder zu rufen.
»Chris!«
Das Zimmer drehte sich, als er zur Tür taumelte. »Gib Ruhe.« Er lehnte sich an die Wand, überließ es Moses, sie zu schließen.
»Wie geht es ihm?«
»Beschissen.« Alles, was Jaron erlebt hatte, spiegelte sich in seinem Gesicht, in der Leere seines Blickes, in seinen Träumen.
»So wie dir?« Moses schlenderte durch den Flur. »Schon mal über einen Job in der Geisterbahn nachgedacht?« Er stieß die Tür zum Schlafzimmer etwas weiter auf. »Nein, du hast recht. Ihm geht es schlechter.« Er schnupperte. »Es riecht nach Fusel.« Eine Braue hob sich. »Du oder der Junge?«
»Jaron.« Er nahm den Geruch gar nicht mehr wahr. »Kannst du bleiben?« Er brauchte Schlaf. Nur ein oder zwei Stunden. »Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten.«
»Ich soll Dornröschen für dich bewachen?«
»Es darf sich an keinem Dorn, an keiner Scherbe, keiner Schere, keinem Messer, an keinem sonst was schneiden.«
Moses Brauen schoben sich zusammen. »Heißt was genau?«
»Er hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Vor meinen Augen.« Als wäre es kein großer Deal, sondern irgendetwas, das sich nebenbei erledigen ließ.
Ihm wurde übel.
»Nein, denk nicht daran.« Moses schloss die Arme um ihn. »Er war vollkommen fertig. Wenn er sich ausgeschlafen hat, wird es ihm besser gehen.«
»Nein, wird es nicht.« Der Schlaf zögerte es nur hinaus. »Pass auf ihn auf, bitte.«
»Natürlich, und beten werde ich auch für ihn.« Er runzelte die Stirn, schnüffelte an ihm. »Sag mal, riechst du nach Sex?«
»Durchaus möglich.« Während der letzten Stunden war er heilfroh gewesen, dass Blake verschwunden war. Die Vorstellung, er könnte davon erfahren, drehte ihm den Magen um.
»Hast du sie noch alle?« Moses’ ausgestreckter Finger stach in Jarons Richtung. »Der Junge ist halb tot und du vögelst ihn?«
»Deshalb tat ich es.« Keine Ahnung, ob ein Priester so etwas verstand. »Schlag mir den Schädel dafür ein oder kündige mir deine Freundschaft, aber pass auf ihn auf.« Chris schlurfte zum Sofa, ließ sich fallen.
»Wegen dir werde ich nicht gegen das fünfte Gebot verstoßen«, drang die basstiefe Stimme zu ihm. »Ich rufe Dad Brown an. Er muss mich vor einer Sünde und euch beide vor dem Tod bewahren. Und damit meine ich nicht den im Fegefeuer!«
»Moses, lass mich schlafen.« Er war noch nie so erschöpft gewesen.
»Er soll auch gleich etwas Gesundes und ekelhaft Schmeckendes mitbringen, das euch wieder auf die Beine hilft.«
Chris schloss die Augen. Die Geräusche von der Straße ausblenden. Die dunklen Gedanken verdrängen.
Jaron befand sich in Sicherheit. Sie hatten ihn gesucht und gefunden und das keine Sekunde zu früh. Vielleicht schaffte er es, wurde wieder stark und lebte ein Leben, mit dem er zurechtkam.
Bis zum nächsten Absturz.
Es gab zu viele Scherben auf der Welt.
Hätte er nicht …
»Scheiße!« Wenn ihm niemand diese Gedanken aus dem Kopf bohrte, würde er nie wieder schlafen.
»Willst du reden?«
Warum lehnte Moses an der Wand? Er sollte bei Jaron sein.
»Dornröschen schlummert friedlich und still«, beantwortete er die ungestellte Frage. »Wieso machst du es nicht ebenso?«
»Ich bekomme das Bild nicht aus dem Kopf, wie er sich dieses dreckige Scheißding übers Handgelenk gezogen hat.«
Moses setzte sich zu ihm.
Das Sofa ging unter seinem Gewicht in die Knie.
»Wovor fürchtest du dich?«
»Das weißt du.«
»Ich meine nicht Jarons Zustand. Ich spreche von deinem.«
»Da ist ein Gespenst.« Chris richtete sich auf. »Es begleitet mich schon sehr lange.« Seltsam, dass es früher sein Held gewesen war. »Es ist aus meinem Leben geflohen, um in das der Zwillinge einzubrechen. So verheerend, wie du es dir nicht vorstellen kannst.« Tote ließen sich nicht vertreiben. Sie warfen ihre Schatten auf jeden, den sie berührt hatten. »Seit ich Jaron geküsst habe, fürchte ich mich davor, wie dieses Gespenst zu werden.« Letzte Nacht war es geschehen.
»Du steckst bis zum Hals in Sünde und Verwirrung, aber da geht es dir wie allen Menschen.«
Moses’ Pranke klatschte ihm auf den Oberschenkel.
»Lass das Gespenst ziehen. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Und warum habe ich Jaron in die Besinnungslosigkeit gevögelt, kaum dass ich ihn gefunden hatte?«
Moses zog seine Hand zurück. »Du siehst einen sterbenden Jungen und alles, was dir einfällt, ist Sex?«
»Nein.« So war es nicht gewesen. »Ich fand einen Jungen, der sich nach dem Tod sehnte. Der mir sagte, er würde nichts mehr fühlen. Dabei wusste ich, dass der Schmerz in ihm war. So stark, dass er nichts anders wahrnahm. Dass er sich in den Tod flüchten wollte, um ihn nicht mehr zu spüren.«
»Also hast du den Schmerz aus der Seele in den Körper gezerrt.« Moses nickte bedächtig. »Ganz erschreckend, wie sehr ihr Bennett-Brüder euch ähnelt. Blake hätte für diese Aktion seinen Gürtel genommen.«
»Moses, du machst es schlimmer.«
»Und wenn nicht, hättest du ihn darum gebeten.«
»Moses!« Chris krallte die Finger in die Haare.
»Ich sage dir jetzt, was ich tun werde.« Er stand auf, sah auf ihn hinab. »Ich werde für dich beten. So inbrünstig und lang, bis das Gefühl, dir die Faust ins Gesicht schmettern zu müssen, nachlässt und mir wieder einfällt, dass du mein Freund bist.«
Oh Gott.
»Der Einfachheit halber werde ich das an Jarons Bett erledigen. Und zwar nicht, um ihn vor dummen Ideen zu schützen, sondern vor dir.«
»Ich wollte, dass er fühlt.« Der Moment, als sich Jaron nach der Scherbe gebückt hatte … »Ich hatte so entsetzliche Angst um ihn.«
»Willst du mir weismachen, du hättest ihn ins Leben zurückgefickt?«
Der Griff in den Nacken war hart.
»Christopher Bennett! Deine Sühne lässt sich nicht auf einer Arschbacke absitzen. Sie wird dich packen und schütteln, bis du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist!«
»Ich nehme sie an.« Es tat gut, dem zornigen Blick zu begegnen. »Ich nehme alles an. Egal, was sich Gott für mich ausdenkt. Sag ihm das. Aber im Gegenzug segnet er Jaron.«
»Gott ist kein Geschäftsmann.« Moses ließ ihn los. »Ich versuchte es eine geraume Zeit, aber er ließ nie mit sich handeln. Also hörte ich damit auf.«
Chris sank zurück. »Gott ist ein egoistisches Arschloch, das uns zum eigenen Zeitvertreib in die Hölle schickt.«
Ein Schlag, der ihm die Tränen in die Augen trieb.
Moses thronte über ihm. Sein Zeigefinger bohrte sich in Chris’ Seele. »Hier gibt es nur ein egoistisches Arschloch und das liegt vor mir. Ich habe keinen Schimmer, was sich Gott dabei denkt, dich und Jaron zusammenzuführen. Aber ich vertraue auf seine Weisheit. Sonst müsste ich dich aus dem Fenster werfen!«
»Es ist nicht hoch genug.« Nur der zweite Stock. »Versuch’s vom Dach aus.«
Dieses Mal klatschte ihm Moses’ Pranke auf die andere Wange.