Schnee. Hoch bis zu den Knöcheln. Die roten Tropfen, die sich von seinen Fingern lösten, versanken darin. Es hatte in der Nacht geschneit und er hatte es nicht einmal bemerkt.
Seine Kleidung hing in Fetzen, seine Schuhe waren verschwunden. Die Reste des Pullovers starrten vor Dreck und Blut. Vincent streifte sie ab, warf sie in den Kellereingang zurück.
Die Abdrücke seiner nackten Füße auf den verschneiten Stufen, dreckig und blutbesudelt wie er selbst.
Der Besen lehnte an der Hauswand. Er brachte es nicht über sich, ihn auch nur zu ergreifen. Er war unendlich müde. Die Jagd war anstrengend gewesen. Er tauchte die Hände in den Schnee, rieb sich die Spuren seiner Mahlzeit vom Körper. Seine Finger krümmten sich vor Kälte, nicht vor Gier. Dreckig, aber menschlich.
Wenn sie es doch blieben.
Sie hatten sich in die Beute gekrallt, sie zu Fall gebracht.
Der Kadaver im Keller. Er musste ihn beseitigen.
Später.
Vincent stand auf, streckte die schmerzenden Muskeln. Über ihm säumte sich bleiernes Grau mit einem leuchtend roten Saum. Der Morgen war ein Geschenk. Er befreite ihn von dem Albtraum, der ihn zu etwas machte, das nicht existieren durfte. Es war das dritte Mal in nur einem Monat gewesen.
Vincent schluckte gegen die Enge in seinem Hals an. Was auch mit ihm geschah, er verlor die Kontrolle darüber.
Ins Haus. In die Wärme. Unter die Dusche und alles von sich abwaschen, was nicht zu ihm gehörte.
Er war kaum imstande, die Füße voreinander zu setzen. Wenn er jetzt in den Schnee sank, bliebe er liegen. Die Erschöpfung würde ihn ebenso wenig aus den Fängen lassen wie die Bestie, wenn sie Beute witterte. Sie steckte in seinen Gedanken, in seinen Bedürfnissen. Solange er sie in sich fühlte, war es noch nicht vorbei.
Der Garten lag friedlich im ersten Morgenlicht. Hohe Hecken und alte Bäume verbargen ihn vor fremden Blicken, doch selbst wenn jemand den nackten Mann im Schnee wahrnehmen würde, hielte er ihn eher für den Schatten eines Albtraumes als für einen Menschen.
Er hätte recht.
Vincent schleppte sich zu seiner Werkstatt. Der Backsteinschuppen duckte sich ebenso unter der Schneedecke wie die Rosensträucher an seinen Mauern. Tiefrot leuchteten sie aus dem kalten Weiß hervor. Sie rankten bis hinauf zur löchrigen Dachrinne, umrahmten die schäbige Tür, als wäre sie der Eingang zu einem wundervollen Ort, dabei verbargen sich seine Abscheulichkeiten dahinter.
Der zarte Duft trotzte der Winterkälte. Er atmete ihn tief ein, strich mit den Fingerspitzen über die Blütenblätter. Sie lösten sich. Wie Tropfen im Schnee lagen sie vor seinen Füßen.
Er zerstörte, was er liebte. Sogar als Mensch.
Verbotene Gedanken.
Er wandte sich um, ging zurück zu der aufgewühlten Stelle und häufte ein paar Handvoll Schnee darüber. Schmolz er, würde er die Spuren der Jagd mit sich in die Erde sickern lassen.
Der Weg um das alte Haus erschien ihm zu lang. Sein Rücken schmerzte, als er sich nach dem Schlüssel unter der Statue bückte. Ein Greif. Sein erster Versuch, mit Stein umzugehen.
Er hatte viele Schlüssel verloren. Zusammen mit seiner Kleidung, seinen Schuhen, seinem Menschsein. Bis er gelernt hatte, Vorkehrungen zu treffen, doch dieses Mal hatte er es nicht geschafft. Das war ihm lange nicht mehr passiert.
Vincent schloss auf, erklomm die Treppe so leise wie möglich. Bis auf Paul lebte niemand in der alten Villa, den er hätte wecken können.
Paul. Sein moralischer Wächter. Wie ein Erzengel stand er zwischen ihm und seinen Versuchungen. Seit sie gemeinsam hier lebten, hatte keine Frau nach Einbruch der Dunkelheit das Grundstück betreten. Je länger die Enthaltsamkeit währte, desto mehr drängte die Bestie zur Jagd, als wollte sie den Hunger stillen, den der Mann empfand.
Und wenn sie den gesamten Berliner Forst leer fraß, es würde ihr nicht gelingen.
Er schleppte sich in den zweiten Stock, öffnete leise die Tür. Das Flurlicht brannte, also hatte Paul mitbekommen, dass er in der Nacht aufgebrochen war.
Er sehnte sich nach Schlaf, doch vorher musste er duschen. Menschen lagen nicht blutbesudelt im Bett.
Jeder Handgriff fiel ihm schwer.
Das Wasser wusch braune Schlieren von ihm, wirbelte sie um den Siphon, bevor sie endlich darin verschwanden.
Wie lange hielt er die Existenz zwischen Mensch und Monster noch aus? Wenn er sich jemandem anvertrauen, auch nur einen Funken Mitgefühl in fremden Augen sehen könnte.
Seine Stirn sank gegen die Fliesen.
Mitgefühl für ein reißendes Tier? Alles, was er verdiente, war der Tod. Er hatte sich ihm überlassen wollen, doch die Bestie hatte es verhindert. Drei Verwandlungen mitten am Tag. Er war sicher gewesen, zerrissen zu werden, aber jedes Mal war er wieder als Mensch erwacht, um sich erneut seinem Schicksal zu stellen.
Das Badezimmer versank in Schwaden, als er es verließ. Nur in ein Handtuch gehüllt ging er in sein Zimmer. Statt sich ins Bett zu legen, zog er sich an. Auf dem Schreibtisch stand der aufgeklappte Laptop. Die Hoffnung, inmitten des Internet-Schwachsinns ein Körnchen Wahrheit aufzuspüren, begleitete ihn seit Jahren. Er musste herausfinden, was er war. Bisher war ihm lediglich das Gegenteil gelungen. Er litt weder an Hypertrichosis noch an intensiven Wahnvorstellungen. Was er als Bestie erlebte, war Teil seiner Realität. Das Reh im Keller bewies es ebenso wie die blutbefleckte und zerrissene Kleidung im Kellereingang. Früher hatte er die Beute im Wald erlegt und dort gefressen. Weshalb er sie heute nach Hause geschleppt hatte, wusste er nicht. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war der Geschmack des Blutes, als sich die Fangzähne in zuckendes Fleisch versenkt hatten.
Vielleicht hatte ihn jemand verflucht. Was für ein verrückter Gedanke.
Sein Kopf sank auf den Tisch.
Er war so unendlich müde.

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