Schneeflocken. Dick wie Drops. Sie legen sich schneller auf die Windschutzscheibe, als sie der Scheibenwischer zur Seite schieben kann. Die Autos schleichen den John Nolen Drive entlang. Kein Wunder, die Fahrer sehen so wenig wie ich. Wie im dichten Nebel. Selbst das Licht der Weihnachtsdekoration wird vom Schnee geschluckt. Fast Mitternacht. Meine Schicht geht noch bis fünf Uhr morgens. Ist okay. Ich bin wach. Habe ich so entschieden. Disziplin ist eine feine Sache. Oder der Strick um deinen Hals. Oft erst das eine, dann das andere. Mich hält sie in akzeptablem Zustand am Leben. Kein Suff, kein Verlottern. Gleichgültig, wie es mir geht. Die Absagen der Agenturen sind längst verwunden.
Die Flocken fallen schneller. Der Wind treibt sie mir entgegen.
Ich konzentriere mich auf die Rücklichter meines Vordermannes. Rotleuchtende Iriden zwischen grauweißem Nichts.
Das Starren strengt an. Meine Augen werden immer trockener. Kann auch an der Klimaanlage liegen. Schalte ich sie aus, beschlagen die Scheiben von innen und ich bin vollständig blind.
Das Sheraton Hotel. Ich ahne es mehr, als dass ich es erkenne. Ein Mann steht am Straßenrand. Ohne Schirm, ohne Mütze. Dafür mit einem Aktenkoffer in der Hand. Er winkt nach einem Taxi. Freitagabend vor dem vierten Advent. Bei diesem Sauwetter. Er hat Glück, dass ich frei bin. Ich fahre rechts ran, schnappe mir den Schirm und springe aus dem Auto. Während ich ihn aufklappe, eile ich um die Motorhaube bis zu meinem Fahrgast. Er nickt, als ich den Schirm über ihn halte.
Ein Asiate. Mit europäischem Einschlag. Sehr helle Haut, sehr dunkle Augen. Ihre Schrägstellung in Kombination mit den silbernen Brauen verleiht ihm eine aparte Extravaganz.
Junges, auffällig schmal geschnittenes Gesicht, dennoch graue Haare. Streng im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die glitzernden Schneeflocken in ihnen verleihen den nassen Strähnen einen Lametta-Touch. Edler Mantel. Der Kragen hochgestellt, die Schuhe sehen teuer aus. Ich tippe auf handmade.
»Guten Abend, Sir. Schauerliches Wetter.« Während ich Beredsamkeit heuchele, öffne ich ihm die Beifahrertür.
Er haucht ein akzentfreies Danke sehr und gleitet geschmeidig auf den Sitz.
»Darf ich Sie vorübergehend von Ihrem Gepäck befreien?«
»Nein danke.« Er stellt den Aktenkoffer zu seinen Füßen ab.
Sein Profil im Halbdunkel des Wagens. Das Licht des Hoteleingangs huscht über die Wangenknochen. Ein Tropfen geschmolzenen Schnees rinnt an seiner Schläfe entlang, mit einer lässig eleganten Geste wischt er ihn weg.
Er ist schön.
Auf eine unheimliche Weise. Ein Gesicht so alt wie die Zeit, dabei weist es keine Falten auf. Das Alter steckt unter der Haut, liegt in der Tiefe des Blicks, der mich aufmerksam doch gänzlich gelassen betrachtet. Zeitlos. Immer da gewesen. In Geschichten versteckt, in Flüche gebannt, auf längst eingerissenen Pergamenten verewigt.
Bullshit. Was zum Teufel denke ich da?
Meine Kehle ist trocken.
Verdammte Klimaanlage.
Ich ringe mir ein Lächeln ab, schließe die Tür und laufe im Sturmschritt auf die andere Seite. Beim Schirmausschütteln verwandelt mich die Winternacht in einen Schneemann. Als ich endlich im Warmen sitze, tropft es mir ebenfalls aus den Haaren.
»Zum .« Er sieht durch die Windschutzscheibe in die Nacht. »Bitte schnell. Es drängt.«
Nur ein paar Minuten. Selbst bei diesen Verhältnissen. Was will der Mann kurz vor Mitternacht in der Universität? Muss ein echt dringender Termin sein.
Ich streife das klamme Gefühl ab, das eher in meiner Seele als in meiner feuchten Jacke hängt, und schleiche so zügig wie möglich durch einen mittlerweile ernstzunehmenden Schneesturm.
Zehn Minuten werden zu einer Ewigkeit, in der kein Wort gewechselt wird. Mein schweigender Gast schaut aus dem Fenster, bemerkt meine unauffälligen Seitenblicke nicht.
Etwas Seltsames geht von ihm aus. Ich spüre es auf dieselbe Weise wie die Elektrizität in Gewitterluft. Nicht benennbar, doch es kribbelt mir durch die Nerven.
Das Hauptgebäude der Fakultät. Ich parke vor der Treppe zum Eingang. Tatsächlich, einige Fenster sind noch erleuchtet.
»Bitte warten Sie hier. Ich bin in wenigen Minuten zurück.« Aus der Manteltasche zieht er ein Bündel Geldscheine und reicht mir davon in etwa den doppelten Fahrpreis.
»Kein Problem, Sir.«
Er sieht mich auf diese konzentrierte Art an, wie vorhin. »Ich werde in schlechter Verfassung sein, wenn ich zurückkehre.« Er hebt nicht einmal die Stimme. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zurück zum Hotel fahren und bis zu meinem Zimmer begleiten. Nummer 511.«
Ich verkneife mir die Frage, was er unter schlechter Verfassung meint. »Selbstverständlich, Sir.« Ist er krank? Sollte ich ihn deshalb hierher fahren? Ich steige aus, um ihm die Tür zu öffnen.
Nein. Ihm fehlt nichts. Er bewegt sich geschmeidig und kraftvoll. Keinerlei Anzeichen von Schwäche. Zügig, ohne zu hetzen, erklimmt er die Stufen zum Eingang. Er verschwindet in der Tür, während mir der Schnee in den Kragen weht.