Don't kiss, just drive»Ich werde Chauffeur.« Der Plan steht. Unumstößlich. Ich liebe das Fahren. Vor allem in protzigen Wagen. Da ich sie mir nicht leisten kann, komme ich selten in den  Genuss.
Der Duft des Leders, das angenehm Haftende, dennoch Glatte des Lenkrades, das mühelose Schalten mit einem perfekt in die Handfläche gebetteten Knaufs. Sanftes Dahingleiten, bei dem es gefühlstechnisch keine Rolle spielt, ob achtzig oder hundertachtzig Stundenkilometer auf dem Tacho stehen.

Limousinen. Alles andere sind bessere Vehikel. Ich muss das wissen. Mein Stiefvater besaß einen Jaguar XF. Niemand außer ihm durfte mit dieser Schönheit fahren. Ich war die Ausnahme. Dafür investierte ich eine Menge. Es hat sich gelohnt. Zugegeben, meine Mutter sah das anders. Nicht einmal auf ihrem Totenbett hat sie mir verziehen.

Ein Fakt, mit dem ich leben muss.

Ich fahre nebenbei Taxi. In Madison, Wisconsin. Allerdings sind Taxen keine Limousinen im eigentlichen Sinn und stinken, statt zu duften. Die Fahrgäste lassen ebenfalls oft zu wünschen übrig.

Sie reden. Nicht jeder, aber die meisten. Belangloses, was mich weder interessiert, noch jemals interessieren wird. Ich wünschte, sie würden schweigen. Ein schlüssiger Eingangssatz, der lediglich so konkret wie möglich das Ziel erwähnt, genügt vollkommen. Auch diese penetrante Art des Nachhakens, um mich in ein Gespräch zu verwickeln, ist mir zuwider und beeinträchtigt meinen Fahrgenuss immens.

Mein Traum: Ein schweigender, gern auch zungenamputierter oder stimmbandgeschädigter Fahrgast. Oder jemand, der mich als Modul des von ihm gekauften Service betrachtet und dementsprechend in Ruhe lässt. Von dem ich nichts weiß, außer, dass er sich einen Chauffeur plus Limousine leisten kann.

»Chauffeur?« Tante Nelly hebt zweifelnd die Brauen. »Dazu braucht man eine Ausbildung.«

»Ich fahre dich. Das ist Ausbildung genug.« In der Army bin alles gefahren, das Räder besaß.

»Ich kann sehr gut allein fahren.«

»Keinesfalls.« Ihr Fahrstiel beschert mir Panikattacken. Es liegt weniger daran, dass sie auf einem Auge blind ist, was sie jedoch seit Jahren konsequent leugnet, sondern eher an ihrem ausgeprägten Hang zum Risiko. Der Gedanke das klappt noch, wird zweifelsfrei der letzte ihres Lebens sein.

»Jacob.« Tante Nelly gießt sich einen Tee ein. »Überdenke dieses Vorhaben in Ruhe. Ein Chauffeur ist eine Art Miet-Diener. Willst du das wirklich?«

»Der Dienst ist indirekter Natur. In erster Linie fahre ich.« Und zwar exakt mit den Wagen, die ich liebe. Ich brauche nicht viel in meinem Leben. Doch die Dinge, die ich nutze, sind wertig oder sie sind gar nicht. Demzufolge besitze ich kaum etwas. Wesentlich weniger, als ich bräuchte. Tante Nelly hat  kein Problem damit, mir ihren Hausrat zur Verfügung zu stellen.

»Erstklassige Chauffeure verdienen gut«, wendet Nelly ein. »Du könntest deine Spielschulden begleichen.«

»Welche Spielschulden?« Ich spiele nie. Ich wüsste nicht um was.

»Nicht?« Sie wirkt ehrlich erstaunt. »Ich dachte, deine traurige Vergangenheit zwingt dich zu exzessiven Trinkgelagen und nächtelangen Casinobesuchen. Immerhin bist du unehrenhaft aus der Army entlassen worden.«

Ein Umstand, den sie mir häufig unter die Nase reibt. Ich habe ihr meine Entscheidungen erklärt. Sie hat behauptet, sie verstanden zu haben. Eine saubere Lüge.

Es gibt Dinge, die erledige ich auch aus Gründen der Vaterlandsliebe zu allseitiger Zufriedenheit. Und es gibt Dinge, die verweigere ich auch dann, wenn mir eine Pistole an die Schläfe gehalten wird. Eine unehrenhafte Entlassung als Folge solcher Entscheidungen ist Dreck dagegen. Ehre und Stolz können nur dort angekratzt werden, wo sie existieren. Beides habe ich aus meinem Leben getreten. Zusammen mit den meisten meiner sogenannten Freunde und unschöner Erinnerungen an Explosionen, abgerissener Körperteile und dem Anblick von Staub auf offenen Augen.

Träume zählen nicht. Sie sind heimtückisch, schleichen sich aus der Dunkelheit an, wenn du dich nicht wehren kannst. Sie überfallen dich. Brutal, skrupellos. Zwecklos, eine Waffe zu laden und ins Finstere zu schießen. Nichts und niemand wird ächzend niedersinken. Nichts und niemand wird dich aufgrund seines Todes für immer in Ruhe lassen. Träume dünnen aus, wenn die Kugel naht. Sie lassen sich durchdringen, ohne Wunden, ohne Narben. Beides bekommst nur du. Reichlich. Nicht außen. Aber innen.

Deshalb schlafe ich ungern. Kaffee ist mein Freund. Der beste, den ich vorweisen kann. Einer meiner Tricks: Früh zu Bett und früh wieder raus. Die übelsten Träume ducken sich in den frühen Morgenstunden zum Sprung. Stehe ich vor vier Uhr auf, entkomme ich ihnen hin und wieder.

»Der nette junge Mann mit dem Ring in der Unterlippe hat heute Morgen nach dir gefragt.« Nur ein Tropfen Sahne. Mehr nimmt Nelly pro Tasse nie. Er schwimmt nach einer Sekunde als Wolke auf der goldbraunen Oberfläche. »Ich habe dich verleugnet, wie abgesprochen.«

»Gut.« Markus begann, mir lästig zu werden.

»Warum?« Nelly betrachtet mich mit ihrem Unschuldsblick. »Ich dachte, es wäre was Ernstes zwischen euch beiden.«

»War es auch.« Bis er mich geküsst hat. Keine Küsse. Nie und nirgendwo hin. Zu nah, zu intim, zu verbindlich. Er wusste, dass ich diese antiquierte Form der Liebesbezeugung ablehne, und hat sich schulterzuckend über meinen Wunsch hinweggesetzt.

Nein, seine Schulter hatte dabei nicht gezuckt. Nur sein Schwanz. In meiner Faust. Zukünftig wird er das in einer anderen machen.

Ich habe mir danach die Hände gewaschen und ihn freundlich aber bestimmt gebeten, zu gehen und sich das Wiederkommen zu sparen. Ich bin kein Romantiker. Mir fiele es nicht ein, den Fortpflanzungstrieb, der bei mir etwas umgeleitet ausfällt, mit Liebe zu verwechseln. Aus einem einzigen Grund: Liebe ist die pathetische Bezeichnung einer Anhäufung chemischer Reaktionen in Hirn und Unterleib. Es macht Sinn, diesem Trieb nachzugeben, weil ein Orgasmus inklusive des Weges dorthin eine feine Sache ist. Flirrendes Sekundenglück. Ausreichend, um einen grauen Tag in ein helleres Licht zu tauchen.

Außerdem fühlt man sich zu keinem Zeitpunkt intensiver, als während es aus einem herausspritzt. Ein Garant dafür, lebendig zu sein. Hin und wieder brauche ich diese schlichte Gewissheit.

»Da gibt es Firmen, die machen so was.« Nelly rührt in ihrem Tee.

»Was? Küssen?« Das halte ich für ein Gerücht.

»Nein.« Liebenswert, ihr Lächeln. »Einen zum Chauffeur auszubilden. Ein paar Tage in Praxis und Theorie, dann eine Prüfung von irgendeiner Verkehrsinstanz und wenn du willst, kannst du noch einen zweiten Kurs ranhängen. So für die ganz besonders anspruchsvollen Kunden.«

»Woher weißt du das?« Das Geräusch des ans Porzellan schlagenden Löffels stellt mir die Härchen auf. Sie ignoriert meinen Blick und klackert weiter. Dabei ist ihr meine Geräuschempfindlichkeit durchaus vertraut. An Silvester ziehe ich mich an den Devil’s Lake zurück. Eine Jagdhütte, Wald, der See, Stille, ich. Ein super Team.

Stille ist zweierlei in meinem Leben: Frieden oder Tod. Ich komme mit beidem klar. Beim Lärm sieht es anders aus.

»Ich habe in deinem Zimmer Staub gewischt und die ausgedruckten Prospekte gefunden.« Wieder dieses Lächeln. »Ruf dort an, wenn es dich glücklich macht.«

Nelly meint den Job. Nicht den Anruf. Ich telefoniere ebenso ungern, wie ich mich unterhalte. Nelly stellt die einzige Ausnahme dar. Immerhin gewährt sie mir Obdach und das schon ziemlich lange. Aufgrund eines familiären Missverständnisses sah ich mich gezwungen, mit siebzehn Jahren mein Elternhaus zu verlassen.

Nein, es war kein Missverständnis. Ich verführte meinen Stiefvater versehentlich vor den Augen meiner Mutter. Damals für mich eine Notwendigkeit. Für sie eher ein Drama, in das sie trotz Hyperventilation nicht eingriff. Sie wartete nach Luft schnappend ab, bis ihr Mann schweißnass und zu tiefst befriedigt zurück auf die Sofakissen sank, bevor sie ihren Hausschuh auszog und auf mich losging.

Ich war schneller und Tante Nellys Wohnung zum Glück nicht allzuweit entfernt. Meinem Ersuch nach Asyl wurde nachgekommen, zog jedoch einen heftigen Familienstreit nach sich, der zum Bruch des ohnehin mürben Verhältnisses der beiden Schwestern führte.

Seitdem wohne ich mit jahrelangen Unterbrechungen in einem zwölf quadratmetergroßem Zimmer mit Samtvorhängen und teile mir das Bad mit einer mittlerweile Fünfundsechzigjährigen. Kein Problem. Wir kommen beide damit klar, zumal ich keine Herrenbesuche empfange. Das mute ich ihr nicht zu. Ist mir nach Sex, organisiere ich den entweder in der Wohnung des jeweiligen Partners oder schlicht in Klubs.

Die Idee, allein zu leben, kam mir früher oft. Dann begann meine Zeit beim Militär. Sie bescherte mir einen längeren Aufenthalt in Afghanistan.

Meine Karriere endete 2013 mit einem Schuss, der nie abgefeuert wurde, den ich aber hätte abfeuern müssen. Zwingend.

Befehlsverweigerung und das anschließende Verfahren samt der unehrenhaften Entlassung ist ein gesellschaftlicher Genickbruch. Mir wurde es erst klar, als die Gesellschaft mein Genick brach. Leise, doch nachhaltig. Ohne das geringste Knacken.

Ich war damals froh, dass ich den Job als Taxifahrer bekommen habe. Erneut bei Tante Nelly unterzukriechen war zum einen eine finanzielle Entscheidung, zum anderen nicht. Die alte Dame hat sich gefreut. Nicht über die Entlassung. Diese Nummer wird sie mir noch weit über ihren und meinen Tod hinaus nachtragen, sondern über die Aussicht, nicht mehr allein zu wohnen.

Ich trinke meinen Tee, nicke ihr zu und verschwinde in meinem Zimmer.

Es wird Zeit, meine Zukunft zu organisieren.

Nach neun Anrufen bei neun Agenturen, die die Ausbildung zum Chauffeur anbieten, reihe ich neun Absagen hintereinander. Alle aus einem Grund. Die verdammte, verfickte, beschissene, unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst.

Die Zeiten, in denen ich das Handy an die Wand geschmettert hätte, sind vorbei. Ich werfe es lediglich aufs Bett und mich daneben. Ich bin müde. Todmüde. Ich sollte mehr schlafen.

Während meine Lider sinken, vergesse ich, über den Witz zu lachen.

Nuri schnappt sich mein Funkgerät, rennt. Sand stiebt von seinen löchrigen Schuhsohlen. 

Codierte Frequenzen. Für den Bruchteil einer Sekunde ist das alles, was ich denken kann.

»Bleib stehen!« Ich springe aus dem Wagen, renne ihm nach. Der Kerl ist schnell wie ein Windhund. »Nuri!« Dieser Bastard! Kann ihn nicht fliehen lassen. Er stiehlt nicht für sich. Niemals. Er wird das Ding einem verdammten Warlord bringen. Alles klar, dann stiehlt er doch für sich.

»Nuri!« Ich hetze hinter ihm her. Muss ihn aufhalten. Das Funkgerät darf nicht in feindliche Hände gelangen. Gar nichts darf das. Keine Medikamente, keine Nahrung, und schon gar keine Codes.

Ich muss schießen. In den Rücken? Gott!

Ins Bein. Damit kommt er klar. »Nuri! Bleib stehen!« 

Er dreht sich um, sieht mich an. Über den Lauf des Sturmgewehrs hinweg findet er meinen Blick. 

Ich lasse es sinken, sehe Nuri hinterher, bis er verschwunden ist.

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