Glasengelmord„Eindeutig ein Gewaltverbrechen.“ Der Nussknacker beugte sich steif über den Scherbenhaufen aus Durchsichtig und Rot, bis seine lange Nase fast den Glaskopf des zerschlagenen Engels berührte. Am Stück war er von den fragilen Schultern gebrochen und hatte nur einen kleinen Rand des Halses mitgenommen. Leider nicht den Heiligenschein. Stückchenweise verteilte er sich auf der Tischplatte.

„Ich bin untröstlich“, wimmerte der Lebkuchenmann und vergoss dicke Tränen aus Zuckerglasur. „Der kleine Engel war reizend. Jedes Mal, wenn jemand die Tür oder das Fenster öffnete, tanzte er im Windzug und klingelte gemeinsam mit seinen Freunden.“

Da lag der Hase im Pfeffer! Auch unbeabsichtigte Rempeleien sorgten untergründig für Aggression.

Untergründig? Der Nussknacker sah nach oben, wo die restlichen Engel an dünnen Fäden baumelten und betreten auf ihren zersplitterten Freund blickten.

Im Untergrund waren die Glaskerle hohl.

Völlig hohl. Wo kein Herz war, konnten auch keine Aggressionen geweckt werden.

Dann ein Mord aus Eifersucht!

Das Opfer klingelte schöner als die anderen, weshalb einer von ihnen am Erfolgsdruck scheiterte und seine bestialischsten Seiten zeigte.

Auch für Eifersucht brauchte man ein Herz.

Gedanklich strich er dieses an sich interessante Motiv von seiner Liste.

Ein hitziger Wichtel aus Pfeifenputzern und Walnusskopf stakste wichtigtuerisch am Tischrand entlang. „Leichtsinn“, warf er in den Raum. „Die ständige Höhe und die damit verbundene dünne Luft sind dem Engel zu Kopf gestiegen und er schleuderte sich absichtlich grob gegen die anderen.“

„Marie hasste es, Pogo zu tanzen.“ Der Lebkuchenmann scharrte unglücklich mit dem abgerundeten Fuß. „Sie war mehr fürs Sanfte.“

„Marie?“ Herrje! Die Engelbande da oben besaß Namen? Dann stand das Motiv fest: Größenwahn.

„Wenn sich billiger Tand einbildet, was besseres zu sein, kann das ja nicht gut gehen.“ Der Wichtel warf dem Lebkuchen einen Blick zu, für den er beim Nussknacker zwischen den Holzkiefern gelandet wäre.

„Namen!“ Er spukte eine Made aus, die, kaum auf der Tischplatte aufgeklatscht, erschrocken zusammenzuckte und hektisch unter den Adventskranz kroch. „Genügt es uns nicht, unserer Bestimmung nachzukommen? Wozu brauchen wir individuelle Bezeichnungen?“

„Brauchen wir ja nicht.“ Die Stimme des Lebkuchenmannes war kaum ein Flüstern. „Ich habe ihr den Namen zum zweiten Advent geschenkt, weil ich nichts andere besaß.“ Sein Genick knackte gefährlich kross, als er traurig den Kopf hängen ließ. „Und immer nur Zuckergusskrümel fand ich langweilig.“

„Zurück zum Problem.“ Persönliche Befindlichkeiten halfen niemandem weiter. „Der Engel …“

„Marie“, sagte der Lebkuchenmann schüchtern.

„Meinethalben.“ Der Nussknacker atmete tief ein. War er der Einzige mit Verstand im Kopf? Was im Wichtelschädel los war, hatte er eben gesehen: hohl gefressen. Ganz klar. Der wäre der nächste, der Unsinn anstellte. „Marie ist tot, was bedauerlich aber nicht zu ändern ist. Es stellt sich die Frage, warum sie nur noch aus Scherben besteht.“

„Trotteligkeit“, vermutete der Pfeifenputzerwichtel.

„Mord!“ Ganz eindeutig. Der Nussknacker hätte gerne die Arme über der Brust verschränkt, aber dazu waren sie zu kurz.

„Liebeskummer.“ Der Lebkuchenmann wollte die Hände vors Gesicht schlagen, doch auch seinen oberen Extremitäten fehlten notwendige Zentimeter. Seine süßen Tränen konnte er erst am Kinn abwischen. „Sie wollte mit mir durchbrennen, bevor es mich am Sonntag zerlegt.“ Sintflutartig rannen Zuckergussströme aus seinen Smartieaugen. „Sie wollte eine Zukunft mit mir am Stück und fern von Fichtenduft und Last Christmas.“

Verständlich aber gänzlich utopisch. „Werter Freund. Nun lösen sie sich mal nicht auf.“ Auch das tröstende auf die Schulter klopfen scheiterte an der allgegenwärtigen Kurzarmigkeit. „Ein Glasengel und ein Lebkuchenmann. Also wirklich! Was habt ihr euch dabei gedacht?“ Der eine staubte ein, der andere wurde gegessen.

„Nichts.“ Der Lebkuchenmann zog weißen Rotz in die nur angedeutete Nase. „Wir haben nur gefühlt.“

„Liebe!“ Der Pfeifenputzerknilch traute sich, erneut eine Made auszuspucken. Allerdings war sie weniger agil wie ihre Vorgängerin und blieb nach zwei kläglichen Robb-Versuchen zusammengekringelt liegen. Er kickte sie mit dem Holzperlenfuß vom Tisch und sie rollte bis zur Küchentürschwelle. Kurz vor dem Absturz in eine Dielenritze riss sie erschrocken die Augen auf.

Zu spät.

Sie hätte früher aus ihrer Lethargie aufwachen müssen, doch schäbiger als das Innere des Nusskopfes konnte ein staubiger Spalt auch nicht sein. Vielleicht war sie froh über die Wendung ihres Schicksals.

Der Nussknacker klappte den Unterkiefer auf und zu. Denken verspannte ungemein und ein paar Lockerungsübungen konnten nicht schaden.

„Liebe als Motiv scheidet aus.“ Selbst dann, wenn sie von einem Selbstmord ausgehen mussten. „Sieh selbst, Lebkuchenmann. Marie war hohl und herzlos.“ Warum verweigerte jeder, das Offensichtliche zu erkennen?

„Aber ich nicht.“ Der zu kurze Arm des Lebkuchenmannes war lang genug, um auf die linke Brusthälfte zu tippen. Ein großer roter Zuckerschrift Kringel leuchtete auf dem etwas zu dunklen, da leicht angekokelten Braun.

Ein Herz. Eindeutig.

 

 

 

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