Vor einem Jahr, Meiko-Higashi-Brücke, Nagoya, Japan.
»Dein Fall war tief.« Wie eine zerbrochene Puppe liegt der Mann auf dem Asphalt. Eine Pfütze aus Blut besudelt die langen, schwarzen Haare. »Wie alt bist du gewesen? Fünfundzwanzig? Dreißig?« Zu jung, um die Hoffnung aufzugeben. Das Leben selbst hatte sich an ihm vergangen, ihn hin- und hergeschleudert. Ein übermütiges Spiel war eine Freude für die Zuschauer, nicht jedoch für das Spielzeug.
Ich habe schon viele wie ihn gesehen. Sie kommen mir auf ihrem Weg entgegen, fallen mir um den Hals und betteln darum, dass ich sie mitnehme.
Anfangs war es eine schmeichelnde Erfahrung für mich, statt Angst und Entsetzen, Dankbarkeit in den Augen meiner Schützlinge zu sehen. Manchmal auch nur jene Art tiefer Resignation, die alles Lebendige negiert, obwohl es allgegenwärtig ist.
Um die Mittwinternacht häufen sich die freiwilligen Übertritte. Hin und wieder ereignen sie sich so spontan, so unvorhersehbar, dass mir die Gelegenheit genommen wird, einen würdigen Moment zu inszenieren.
Ich reiche meine Hand jedem von ihnen. Denen, die mir aus freien Stücken folgen und denen, die sich zu sträuben versuchen. In dem Augenblick des Zugreifens, wenn sich unsere Finger berühren und sie erkennen, dass es sich warm und fest anfühlt, fällt die Angst von ihnen. Der Ausdruck der Überraschung, der sich zu Erleichterung, sogar in Freude wandelt, ist mein täglicher Lohn und entschädigt mich für die Schmähreden, die mich noch kurz zuvor wie ein Gewittersturm bedrängt haben.
Der Mann auf dem Asphalt ist mir in den Arm gesprungen. Während des Fallens hat er meinen Kuss wie ein köstliches Geschenk empfangen. So innig geben sich mir nur wenige Menschen hin. Sie misstrauen der ungewohnten Leidenschaft, die plötzlich nach ihrer Seele greift. Verstehen nicht, woher sie kommt und fürchten ihre Unmoral.
Für Außenstehende, und viele stehen außen, ist der Gedanke, sich mit mir zu verbinden, abstoßend.
Sie kennen mein Geheimnis nicht. Ihre Erinnerungen reichen nicht weit genug zurück. Sie haben den Pakt, den wir miteinander geschlossen haben, vergessen.
»Wach auf.« Haru Matsukuro. Ein Name, der die spanische Mutter verschweigt. »Haru!« Es ist das letzte Mal, dass ich ihn auf diese Weise rufe.
Er ist schön. Schönheit springt selten von Autobahnbrücken. Sie findet leichter Wege, die gangbar sind. Haru ist an ihnen vorbeigestolpert, immer wieder ins Dickicht gedrungen oder erschöpft in Wüsten zusammengesunken. Es existieren nicht viele persönliche Dinge, die ich ihm hätte zeigen können, hätte er nur ein wenig gewartet und mir Zeit für meine Ouvertüre geschenkt. Ich setze mich gern angemessen in Szene, wird mir die Gelegenheit dazu gegeben.
Ein Stofftier mit Rüssel, das nie einem Elefanten ähnelte, eine Teeschale aus dem Service seines Großvaters, die Risse in der Keramik mit Goldstaub bedeckt, eine Zigarrenschachtel mit abgenutzten Buntstiften. Letztendlich der Grund, weshalb er vor mir liegt.
Das Foto des jungen Mannes, der Haru nicht nur bis tief in die Seele berührt hat, war lediglich als Geschenk gedacht.
Ich beuge mich über das blasse Gesicht, küsse die kälter werdenden Lippen. Seelen lassen sich mit Zärtlichkeit locken wie Mäuse mit Speck und es wird Zeit, dass seine Seele aus ihrem Gefängnis tritt.
Ich streichle mit der Zungenspitze den Mund, der eben noch Entschuldigungen in die Nacht gewispert hat. Keine der Schemen, die in Blech eingezwängt an mir vorbei rauschen, bemerkt mich. Auch nicht den Körper, um den ich behutsam die Arme schlinge. Erst wenn er vollkommen einsam ist, wird die Hektik mit quietschenden Reifen bremsen und das Entsetzen panisch die Ambulanz rufen. Die Abläufe in diesen Momenten ähneln einander wie Geschwister. Sie überraschen mich nicht mehr, dabei werde ich gern überrascht.
Sanft legen sich Schneeflocken auf meinen Nacken, schmelzen in meinem Mantelkragen. Ich liebe ihre Kühle.
Mit dem Daumen öffne ich den Mund meines Schützlings ein wenig weiter, verwöhne ihn mit meiner Zunge. Die Einladung gilt allein der zögerlichen Seele. Der Aufschlag muss sie eingeschüchtert haben, sonst hätte sie sich mir längst gezeigt.
Leben. Ich schmecke es deutlich. Nur ein ängstlicher, zusammengekauerter Rest, doch es klammert sich an die sterbende Hülle, als gäbe es auch nur irgendwo auf dieser Bühne einen Grund dazu.
Hartnäckig. Harus trostloser Entschlossenheit zum Trotz besteht es auf seine Existenz.
Wo? In diesem zerschlagenen Körper kann es sich nicht entfalten.
Es sei denn …
Ich habe es lange nicht mehr getan. Einen Menschen mir zur Seite gestellt, ihn in die Geheimnisse meiner Kunst eingeweiht. Er muss den Schritt von sich selbst fortgehen, hin zu mir. Alles ablegen, was ihm vertraut ist. Haru wird es leichtfallen. Er hat den Abschied auf der Brüstung der Brücke hinter sich gebracht.
Wie erleichtert er mir in den Arm gesprungen ist. Mit welcher Hingabe er sich an mich geschmiegt hat.
Ich könnte ihn lehren.
Und lieben.
Die dunklen Wimpernkränze heben sich. Der Blick darunter fragt mich nach Dingen, die der Verstand nicht begreifen kann.
Noch nicht.
Der Kuss auf die Stirn entlockt meinem Schützling ein Seufzen.
»Teshi.« Ein neues Leben fordert einen neuen Namen.