galgenweib„Sam.“ Leon hebt den Zeigefinger und sieht mich durchdringend an. „Der Baum heißt Sam.“
Weder weiß ich, wie er plötzlich auf die alte Eiche kommt, die am Weg zum Nachbardorf steht, noch glaube ich, dass Bäume Namen haben.
Richtige Namen.
Dass sie Buchen, Erlen oder Gummibäume heißen, ist mir klar.
Leon nickt mit finsterer Miene. „Sam ist böse.“
Blödsinn. Leon hat zu viel intus. Aber ohne ihn wäre ich nicht hier. Der goldene Zinken ist nicht das Herzstück meiner Wochenend-Sehnsüchte, doch heute Nacht ist Disco. Fabian legt auf. Der coolste Kerl an der Schule und damit mein natürlicher Fressfeind.

Ich warte, bis eine Gruppe Mädchen an uns vorbeigegangen ist. Ihrem aufgeregten Gerede nach wollen sie zur Tanzfläche. Eine von ihnen ist Netty. Ich kenne sie seit der Grundschule und komme gut mit ihr klar. Sie ist das einzige Mädchen, über das ich das sagen kann.

„Und, Jeremias?“ Mit einem niedlichen Grinsen zwinkert sie mir zu. „Tanzen?“ Sie streckt ihre Hand nach mir aus.

Für den Bruchteil einer Sekunde bilde ich mir ein, ihr folgen zu können. Dann hört dieser verzauberte Moment auf und mir fällt wieder ein, wer ich bin. Jeremias Ruland. Der Junge mit den zwei linken Füßen und der angeborenen Unfähigkeit, auch nur einen vernünftigen Satz mit Wesen wie Netty zu wechseln. Ich breche mir ein Lächeln von den Lippen und schüttele dabei den Kopf.

Sie kichert mit ihren Freundinnen und geht weiter. Sie hat es nicht ernst gemeint. Ihr war klar, dass ich ablehnen würde, weil ich immer ablehne.Die Erkenntnis tut bloß ein bisschen weh. Nach siebzehn Jahren weiß ich, wie ich ticke und für Überraschungen mir selbst gegenüber habe ich noch nie gesorgt.

Ein Blick über ihre Schulter und Netty wird vom Eingang der Kneipe geschluckt. Im Moment fühle ich mich im Biergarten besser aufgehoben. Leon geht es offenbar ähnlich. Seit wir hier sind, hat er keine Anstalten gemacht, den Floor zu stürmen. Dafür bin ich ihm dankbar.

„Vergiss die Hühner.“ Er stößt mich an und schwankt dabei. „Ich habe meinen Opa gefragt.“ Sein Zeigefinger taucht zwischen uns auf. „Auf dem Baum stand immer SAM. Und zwar in Weiß. Nie in einer anderen Farbe.“ Er hebt die Brauen. „Wenn der Namenszug verblasst, dauert es nicht lange, und schon hat ihn heimlich wieder einer überpinselt.“

„Die Buchstaben sind gesprüht.“ Und kaum noch zu erkennen. „Warum erzählst du mir den Scheiß überhaupt?“ Ich fahre einmal pro Woche an der Eiche vorbei, wenn ich meiner Großtante den Einkauf bringe. Einen guten Meter über der Stelle, wo die beindicken Wurzeln aus dem Boden wachsen, steht S A M. Wer sagt, dass es ein Name ist? Könnte auch die Abkürzung für irgendetwas sein.

„Sam ist ein Galgenbaum.“ Aus Leons bereits rot geäderten Augen funkelt es träge. „Die haben vor dreihundert Jahren oder so dort Menschen aufgeknüpft.“

Ein leichter Schauder rinnt über meinen Rücken.

„Mörder, Beutelschneider, Huren, Kinderschänder.“ Leon seufzt behaglich. „Den ganzen Abschaum haben sie an Sams dicke Äste gehängt und so lange zappeln lassen, bis Ruhe war.“

Woher kennt Leon den Begriff Beutelschneider? Und wieso geht er ihm entspannt über die Lippen, während vor meinem inneren Auge Staub von jedem Buchstaben rieselt?

„In einer Vollmondnacht versammeln sich die Geister der Erhängten in den Zweigen und wispern Wanderern ihre Sünden zu.“ Leons Blick weitet sich.

Ich nehme ihm das Bier aus der Hand. „Hier wandert niemand.“ Rad fahren, Skaten, mal mit dem Hund zwischen den Dörfern hin und her. Aber wandern? So mit Stock und Rucksack und Hut?

„Dann eben Spaziergänger“, hilft mir Leon weiter. „Den Geistern ist es egal, wen sie mit ihren Todsünden vollquatschen.“ Das sensationsgierige Leuchten in seinen Augen verstärkt sich. „Eine Nacht wie diese, Jeremias.“ Er zeigt nach oben. Wie Omas poliertes Silbertablett klebt die silberne Scheibe am Himmel. „Denni saß mal eine ganze Vollmondnacht über an Sams Stamm gelehnt“, plaudert Leon über die Tatsache hinweg, dass sich seine Flasche jetzt in meiner Hand befindet. „Als er morgens nach Hause kam, war er leichenblass. Aber die Buchstaben waren neu gepinselt.“

„Gesprüht!“ Niemand schlenderte mit Farbeimer und Pinsel zu einem Baum und malte ihn an. „Denni ist dein Bruder. Warum hast du ihn nicht ausgefragt, was passiert ist?“

„Weil er`s nicht gesagt hat.“ Leon nickt. Über seiner Nasenwurzel treffen sich seine Augenbrauen.

Da ich morgen zeitig raus muss und mein Vater aus Prinzip keine Rücksicht auf meine Samstagabende nimmt, entscheide ich spontan, dass mein Bedarf an Gruselgeschichten gedeckt ist. Zwei Uhr früh ist genug. Zum Schlafen bleiben mir ohnehin bloß ein paar Stunden.

Netty und ihr Schwarm aus Freundinnen quillt aus der Kneipentür. Ihr Blick streift mich und sie verdreht genervt die Augen.

Autsch. Den Stich ins Ego kann ich gerade noch ignorieren. Ist nicht so, dass ich hässlich wäre. Gar nicht. Meine Haare sind fast schwarz, auf den Schnitt, der mir ein paar Strähnen in die Stirn fallen lässt, bin ich stolz und der Rest von mir kann sich auch sehen lassen. Wenn eines der Mädchen auf die Idee käme, mein permanentes Schweigen in seiner Nähe als süß oder geheimnisvoll zu empfinden, wäre ich gerettet. Am besten wäre es, die Lehrer würden meinen Mangel an Beredsamkeit im Unterricht zeitgleich als Zeichen für Weisheit werten. Das tun sie leider nicht. Zurecht. Der wahre Grund: blöde, langweilige, klägliche, bejammernswerte Schüchternheit. Rote Flecken auf Hals und Wangen, ein Puls jenseits aller Wahrscheinlichkeit, eine hetzende, dafür umso kraftlosere Stimme und feuchte Hände. Dieses Desaster holt mich in jedem Augenblick meines Lebens ein, in dem ich in wichtigen Situationen etwas sagen soll. Kaum dreht sich alles genervt von mir weg, fallen mir die perfekten Sätze zum Thema ein. Aber dann ist es zu spät.

„Ich muss los.“ Ich gieße mit Leons Bier ein paar halb verdurstete Stiefmütterchen im Blumenkübel neben mir. Wenn sie Pech haben, werden sie im Lauf der Nacht noch mit ganz anderen Flüssigkeiten gedünkt. „Bis Montag.“

„Sam der Baum“, summt Leon mit verklärtem Blick „ist tot, er starb im frühen Morgenrot.“

Okay, auch für ihn wird es Zeit.

Da ich vergessen habe, die Fahrradbeleuchtung anzuklicken, streiche ich die Landstraße als potenziellen Heimweg. Meinem Rad und mir blüht die Holperstrecke über Feldwege. Hoffentlich verpasse ich nicht den Abzweig auf die Skaterbahn. Der Vollmond ist heute Nacht mein Freund. Ohne sein Licht wäre ich am Arsch.

Das Geplapper der Glücklichen, die am Sonntag ausschlafen dürfen, wird leiser hinter mir. Mais links, Korn rechts. Der Weg zwischen den Feldern entlang ist eine Saupiste. Um Wildschweine, Füchse und eventuell auch einen Wolf vor mir zu warnen, summe ich für meine Verhältnisse ziemlich laut. Dieser Weg von Xavier Naidoo. Ich schäme mich, dass ich mich nicht zu einem Song von Eminem entscheiden kann.

Dieser Weg wird kein leichter sein. 

Dieser Weg wird steinig und schwer.

Die Melodie fühlt sich gut in Kehlkopf und Seele an und es hört mich ohnehin niemand.

Endlich erreiche ich die Skaterbahn und die elende Holperei endet. Die Wolken wandern träge am Mond vorbei, bis sie hinter knorrigen Zweigen verschwinden.

SAM.

Bin ich vorher schon bei Vollmond hier vorbeigefahren? Kann sein. Ich weiß es nicht mehr. Leons Geschichte klebt in meinem Kopf wie grau getretenes Kaugummi unter der Schuhsohle. Ich steige vom Rad, lehne es an den Stamm. Ein schneller Blick nach oben. Keine Geister. Kein Wispern diverser Sünden. Einerseits bin ich erleichtert, andererseits enttäuscht. Sieht klasse aus, wie die Wolken zusammen mit dem Mondlicht durch die Zweige leuchten.

„Hast du eine Zigarette für mich?“

Scheiße! Mir fährt die Stimme in den Magen wie ein dämlich geworfener Medizinball. Mein Herz donnert. Den Schreckensschrei würge ich mit knapper Müh und Not hinunter.

„Krieg dich wieder ein.“Um den Stamm kommt eine junge Frau.

Was zur Hölle treibt die hier? Und wie, um Himmels willen, sieht sie aus? Fantastisch. Keine Frage. Ihre roten Haare sind locker hochgesteckt, ihre Augen leuchten vor unterdrücktem Spott, der ganz klar auf meine Kappe geht. Und ihre Kleidung ist …

Wow! Ich versuche, woanders hinzusehen. Zwecklos. Ein Korsett quetscht ihren Busen ein und drückt ihn ein bisschen aus dem Ausschnitt. Das Mondlicht schimmert darauf. In meinem Mund wird es nass. Das Bedürfnis, mein Gesicht in diese helle, samtig aussehende Weichheit zu drücken, erschreckt mich. Ich kann nicht wegsehen. Der lange bunte Rock und die nackten Füße, die aus dem Saum hervorschauen, interessieren mich nur am Rande. Bis auf die Fußknöchel. So zierlich. Ich möchte sie berühren. Mit den Lippen. Gott, was geht mit mir ab?

„Stumm und hübsch.“ Die Frau schlendert zu mir und mein Herz macht komische Dinge in meiner Brust. „Was ist jetzt mit der Zigarette?“

„Nichtraucher“, presse ich durch meinen engen Kehlkopf. Um ihr klarzumachen, was ich damit meine, zeige ich auf mich. Hitze schießt mir in die Wangen. War klar, dass ich mich wie ein Vollhorst benehme.

„Kein Problem.“ Ihr Lächeln wirft mich beinahe von den Beinen. „Ich rauche auch nicht.“ Anmutig setzt sie sich an den Baumstamm. Ihre Knie zieht sie an den Körper und ich sehe mehr von ihren Knöcheln und Waden.

Schöne, schlanke Beine. Mir wird warm.

„Ich hatte nur Lust, dich anzusprechen. Heute Nacht bis du der Erste, der hier vorbeikommt.“ Sie klopft neben sich. „Komm schon. Leiste mir für ein paar Minuten Gesellschaft.“

Nase, Augen, Busen, Beine. Ich weiß nicht, wo ich zuerst wegsehen soll. Auch ihr Mund fasziniert mich.

„Was ist?“ Wieder lädt mich die zierliche Hand ein. „Ich beiße nur, wenn du es willst und dafür im Vorfeld bezahlst.“ Ihr Lachen ist hinreißend. Es wirft mich völlig aus der Bahn.

Weiterfahren und die schönste Frau ignorieren, die mir jemals begegnet ist? Allein, dass sie mit mir spricht, ist ein Wunder. Ich stolpere auf sie zu, setze mich unbeholfen wie ein Depp. Mein Blick rutscht von den roten Lippen tiefer. Ich kann`s nicht ändern. Was aus ihrer Bluse schaut, ist zu verlockend.

„Bist du dumm oder nur schüchtern?“ Die Kuppe ihres Zeigefingers legt sich an mein Kinn und hebt es zusammen mit dem Rest meines Kopfes. „Macht es dir was aus, wenn du mir wenigstens in der Kennenlern-Phase in die Augen schaust?“

Dreck, verdammter. Ich benehme mich wie ein notgeiler Idiot. „Tut mir leid“, murmele ich und glaube mir ausnahmsweise selbst. „Ich heiße Jeremias.“

„Angenehm, Jeremias. Ich bin Samantha.“ Ihr Lächeln prickelt über mein Gesicht und bleibt an meinem Mund hängen. „Ich mag deine Lippen. Lust auf einen Kuss?“

„Wie jetzt? Einfach so?“

Sie neigt den Kopf, blickt weiterhin versonnen auf meinen Mund und nickt. „Ja, einfach so.“

Verursacht eine Flasche Bier eine Fahne? Riecht sie die Zwiebeln des Döners, den ich mir mittags gegönnt habe? Bevor ich wegging, habe ich mir die Zähne geputzt. Aber Zwiebeln sind Zwiebeln. Wie kann ich unauffällig in die Hand hauchen, um meinen Atem zu checken? Gar nicht.

„Soll ich probieren, ob du schmeckst?“

Ihr Angebot klingt ehrlich, überfordert mich aber trotzdem.

Sie rutscht näher zu mir, legt ihre Hände an meine glühenden Wangen, für die ich mich abgrundtief schäme, und berührt mit ihren Lippen sacht meinen Mund. „Alles in Ordnung“, flüstert sie. „Mit dem bisschen Bier komme ich klar.“

Weich fühlt es sich an. Und gut. Unsagbar gut.

Sie betupft meine Oberlippe mit feuchter Wärme, dann meine Unterlippe.

Ich halte still. Sollte ich nicht etwas Schlaues machen? Die Initiative ergreifen? Ich bin der Mann.

Der Druck ihrer Hände an meinen Wangen nimmt zu. Zärtlich aber bestimmt, während sie unterschiedliche Kussarten an mir ausprobiert.

Sie geht ran. Ich mag das. Ist auch besser so, denn von mir kommt in solchen Situationen erfahrungsgemäß nichts. Warum? Weil ich solche Situationen bisher nur in meiner Fantasie erlebt habe und selbst da war ich kein Held.

Samantha stört es nicht. Ihre Küsse werden drängender und verwandeln meinen Körper in eine heiße Masse, die kurz vorm Brodeln steht. Die Siedepunkte befinden sich unter dem Nabel und zwischen den Beinen. Das zarte Zupfen ihrer Zähne an meinem Mund macht mich wahnsinnig. Ich denke, sie beißt, erschrecke mich, aber dann folgt nur ein Kuss und kein Schmerz. Meine Nerven verselbstständigen sich.

„Macht Spaß, dich zu küssen.“ Das Mondlicht spiegelt sich in grasgrünen Augen.

Ich stehe auf grüne Augen. Auch auf rote Haare. Und auf Sommersprossen. Dass sie kein Strich in der Landschaft ist, sondern soviel Frau um sich hat, dass es aus diesem komischen Mieder quillt, fasziniert mich ebenfalls.

„Könnte auch der Rest von dir zu unserem kleinen Stelldichein beitragen?“

Rechts und links an meiner Seite fühle ich ihre Beine. Sie drücken sich warm und fest durch den Stoff meines Shirts.

„Ich hab dich“, flüstert Samantha zwischen zwei Küssen. „Jetzt zieh den Stock aus dem Arsch und komm in den Knick. Du tust so, als hättest du noch nie geküsst.“

Meine Wangen glühen nicht, sie brennen. Das ‚habe ich auch nicht‘ spare ich mir. Sie merkt auch so, was Sache ist. Ich bin erbärmlich. Und ich weiß es. Und sie weiß es auch. Hielte sie mich nicht umklammert, würde ich fliehen.

Ihre Hände fahren mir in die Haare und kraulen mir den Nacken. „Verstehe“, sagt sie leise. „Dabei bist du ein hübscher Kerl. Ganz ehrlich.“

Ich kann ihr nicht in die Augen sehen. Nicht nur, weil der Anblick ihres Busens mich ebenso festhält wie ihre Beine, sondern weil mich Komplimente von Frauen überfordern. Merke ich erst jetzt. Bisher kam ich nie in den Genuss.

Erneut nähern sich ihre Lippen. „Tu so, als würdest du mich nie wiedersehen. Als gäbe es nur diesen einen Moment. Ohne Reue, ohne Scham.“ Ihre Zungenspitze spielt in meinen Mundwinkeln.

Nur dieser Moment. Danach sehe ich sie nie wieder. Ob sie mir das schriftlich gibt?Wahrscheinlicher ist, dass morgen die ganze Stadt weiß, dass ich mich wie ein Trottel verhalten habe.

„Was du auch tust …“ Ihr Atem streift mein Gesicht. Ich will unbedingt ihre Lippen noch einmal auf meinen spüren. „Ich verrate kein Sterbenswörtchen.“

Ich glaube ihr. Keinen Schimmer, warum. In einem Anflug von Größenwahn lege ich die Arme um sie.

Sie lacht leise an meinem Hals. Es klingt kein bisschen nach Spott.

Ich streichele ihr über den Rücken, suche im Nacken den Eingang der Bluse und damit zu ihren Schultern. Weit genug ausgeschnitten ist das Ding ja. Zarte warme Haut. Meinen Fingern gefällt, was sie fühlen. Dem Rest von mir auch und ich versuche, mich bequemer hinzusetzen, ohne meinen Freund noch mehr zu stauchen. Er will seine Freiheit und beklagt sich bitter, dass ich aus Gründen der Eitelkeit eine meiner engsten Jeans angezogen habe.

Nur dieser Moment. Danach sehe ich sie nie wieder. Sie verrät kein Sterbenswörtchen. Egal was ich mache.

Ich mache kaum etwas mit ihr. Bin ich verrückt? Das ist die Gelegenheit, meinen Erfahrungsschatz in Bezug auf Frauen von Null auf Hundert zu pushen. Genau das macht mich stutzig. Welche Frau sagt so was zu einem Fremden?

Samantha bemerkt mein Zögern. Sie drückt mich mit dem Rücken an den Stamm der Eiche und rutscht tiefer in meinen Schoß. Sie sitzt exakt auf der Stelle, die im Moment auf jeglichen Reiz sensibel reagiert. Auf Druck von außen und oben ganz besonders. „Nur küssen“, wispert sie. „Dein Mund ist so verführerisch. Hat dir das noch keine gesagt?“

Ich kann nur den Kopf schütteln. Akute Atemnot hindert mich an allem, nur nicht, mich in diese Frau zu sehnen.

Ihre Hände tasten sich unter mein Shirt.

Kleine Stromschläge lassen mich nach Luft schnappen. Mir ist egal, dass eine Fremde breitbeinig auf mir hockt und ihr Rock über die Knie und an den Schenkeln hinunterrutscht. Sie soll einfach nur da sitzen bleiben.

Wahnsinns Beine. Ich küsse ihr Knie und fasse es nicht, dass ich das tue. Es riecht nach ihr und nach dem Moos des Baumes. Samantha wuschelt mir dabei durch die Haare und ihr flirrend leises Lachen raubt mir den Verstand. Ich sehe meinen Händen zu wie sie an ihrem Schenkel hinabgleiten und sich mutig in den Schatten des Rockes wagen. Es wird wärmer. Bei ihr und bei mir. Aber ohne ihre Lippen auf meinen kriege ich das hier nicht hin. „Küss mich weiter, ja?“ Dann kann ich so tun, als wüsste ich nicht, was meine Hände bei ihr treiben.

Sie seufzt auf eine Art, die mich meinen Namen vergessen lässt. Und verschlingt mich. Meinen Mund zuerst. Meine Zunge, die von ihrer nicht genug bekommt. Mein Kinn, meinen Hals.

Ich schließe die Augen und lasse Samantha machen. Sie und meine Hände. Die beiden sind ein gutes Team. Kalte Nachtluft auf der Haut. Wo ist mein Shirt? Mir wird heiß, als sich Samantha an mich schmiegt.

Sie zupft an meiner Jeans, flucht ab und zu.

Ich kann ihr nicht helfen. Ich kann nur küssen und das Gefühl ertragen, das mich gleich sprengt. Überall an mir ist ihre duftende Haut, ihr warmer Körper. Ich treibe im Nirgendwo und folge den Impulsen, die mir ihre Berührungen geben.

Heiß und feucht in unserer Mitte. Rau und hart an meinem Rücken. Ist mir egal. Auch wenn ich nachher durchs Shirt blute. Diese Nacht ist alles wert.

„Tust du mir einen Gefallen?“ Samantha keucht die Worte und schubst mich damit nah an den Rand, den ich ihr zuliebe mühsam vor mir herschiebe. „Wenn dir das hier gefällt, schreibe morgen meinen Namen an den Baum.“

„Warum?“, schaffe ich zwischen kaum unterdrücktem Stöhnen zu fragen.

„Weil ich nicht vergessen werden will.“ Plötzlich klingt sie traurig. Ich halte sie an der Hüfte fest und hindere sie damit, mein Hirn wegen ihrer Bewegungen komplett in den Unterleib rutschen zu lassen.

„Wie kann dich jemand vergessen?“ Ich werde von diesem Erlebnis noch meinen Urenkeln mit leuchtendem Blick erzählen.

„Kein Name auf irgendeinem Stein.“ Ihre Augen schimmern feucht und es liegt nicht an ihrer Erregung. „Nicht einmal ein Grab. Sie haben mich einfach hängen lassen.“

Langsam dämmert mir, was sie meint. Wir vögeln unter dem Galgenbaum, was heißt, dass sie der Geist einer Erhängten ist. Keine lebende Frau, die wie Samantha atemberaubend hinreißend ist, würde hier, mitten in der Nacht, ausgerechnet auf einen wie mich warten.

Ich streiche ihr eine Strähne von der süßen Nase und wische bei der Gelegenheit eine Träne weg. Ich bin dabei, ein Gespenst zu poppen.

Was war sie? Eine Mörderin? Eine – wie hieß das Wort? – Beutelschneiderin? Wohl eher eine Hure, die ihr Handwerk wirklich, wirklich gut versteht.

„Machst du irgendetwas Gruseliges mit mir?“ Ich habe keine Lust, morgen tot am Stamm der Eiche aufzuwachen.

Samantha lächelt, obwohl ihre Wangen vor Tränen schon glitzern. „Bis jetzt findest du es schön, oder?“

Ich nicke und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Diese Situation ist dermaßen abgefahren, dass sich nicht einmal Panik bei mir einstellt.

„Dann versprich mir das mit meinem Namen und ich lasse es für uns beide noch schöner werden.“ Ihr Lächeln ist die reinste Verheißung.

„Du willst nur das von mir?“ Ich bin bereit, ihr meine Seele zu schenken und noch die ein oder andere Kleinigkeit.

„Nur das.“

„Kein Problem.“ Es ist fantastisch, mit den Händen durch ihre Haare zu fahren und dabei die Frisur zu ruinieren. Mit keinem Mädchen aus meiner Klasse hätte ich das machen dürfen. Ich küsse die Tränen von ihren Wangen. Sie schmecken salzig wie erwartet. Warum sagt mir mein Gehirn, dass das unmöglich ist? Ich schalte es ab. Bis auf Schwachsinn produziert es heute ohnehin nichts mehr.

Samantha unterstützt mich dabei, indem sie mir die Lust in den Körper zurück streichelt, reibt und küsst, die sich vorübergehend verkrochen hat. Nicht lange, und ich kann kaum noch atmen.

Niemand darf eine Frau wie sie vergessen. Ich keuche ihren Namen, während ich mich hilflos vor explodierender Lust an sie klammere.

 

„Alter!“ Leon bleibt wie angewurzelt vor meinem Bett stehen. „Du bist vor mir nach Hause gegangen. Warum siehst du so fertig aus?“

Mein Mund ist trocken, mein Genick steif und meine Rückseite fühlt sich roh an. Aber sonst geht es mir bestens. „Gib mir einen Moment.“ Ich ziehe mich an und ignoriere das Bad. Das kann warten.

„Scheiße, dein Rücken!“, stammelt Leon und wird blass. „Was hast du angestellt?“

„Mich an einem Baum geschubbert.“ Ich muss lachen.

Leon zuckt zusammen. „Alles klar mit dir?“

„Und ob.“ Ich habe keine Sprühdosen, also suche ich in der Garage nach einem Ersatz. Rostschutzfarbe in Weiß, Gelb und Rot. Das Weiß ist Pflicht, das Rot ein Geschenk. Ich stopfe die Farbbüchsen mit einem Pinsel in meinen Rucksack und schwinge mich aufs Fahrrad.

Leon folgt mir. Soll er. Mir ist ab heute scheißegal, was andere von mir denken.

Die Eiche sieht im Morgendunst geheimnisvoller als im Mondlicht aus. Ich streichele über die raue Borke und erinnere mich an Samanthas samtweiche Haut. Erst danach tauche ich den Pinsel in die Farbe. SAM entsteht unter sorgfältigen Pinselstrichen. Damit es gut aussieht, halte ich mich an den Schriftzug meines Vorgängers.

Hinter mir schnappt Leon nach Luft.

Mein Grinsen tut in den Wangen weh, als ich den Deckel der roten Farbe aufhebele.

Ein großes Herz. Einmal um SAM herum. Sie hat es sich verdient. Bevor ich sie vergesse, vergesse ich meinen eigenen Namen.

Der Wind fährt in die Zweige und ich bilde mir statt des Raschelns der Blätter ein leises, flirrendes Lachen ein.

2 Gedanken zu “Das Galgenweib

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